BfArM - Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte

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„Wir wollen das Umfeld der klinischen Forschung grundlegend umgestalten“

Klinische Studien sind eine Voraussetzung für den medizinischen Fortschritt. Durch sie haben Patientinnen und Patienten die Chance auf einen frühen Zugang zu innovativen Therapieoptionen, werden neue Behandlungsmöglichkeiten in die Praxis überführt. Warum Europa als Studienstandort so wichtig ist und was sich mit Blick auf Genehmigungsverfahren ändern muss, erläutert Prof. Karl Broich, Präsident des BfArM.

Der Wettbewerb um klinische Studien nimmt seit Jahren zu, immer mehr Studien finden außerhalb der EU statt – muss uns das beunruhigen?

Dass klinische Studien international ausgerichtet werden, ist grundsätzlich nichts Ungewöhnliches. Arzneimittel werden weltweit vermarktet, dementsprechend sollen Studien auch die Geschlechter- und Ethnienvielfalt abbilden. Aber natürlich spielen bei der Wahl der Studienstandorte auch strategische und finanzielle Überlegungen der Pharmaunternehmen eine Rolle. Klinische Studien werden auch deshalb zunehmend außerhalb Europas oder den USA durchgeführt, um die Kosten niedrig zu halten. Diese Entwicklung beobachten wir seit Jahren sehr genau, sowohl mit Blick auf die ethischen als auch wissenschaftlichen Standards. Studienergebnisse beispielsweise aus Asien sind nicht immer ohne Weiteres auf Europa übertragbar. Daher muss es in unser aller Interesse sein, die EU als Studienstandort zu stärken.
Ganz grundsätzlich geht es darum, nicht den Anschluss zu verlieren. Der medizinische Fortschritt entwickelt sich in hohem Tempo. Die Pandemie hat eindringlich gezeigt, wie wichtig der schnelle Zugang zu medizinischen Innovationen ist, den klinische Studien Patientinnen und Patienten bieten. Und auch das medizinische Personal in den Studienzentren profitiert, denn es kann sich mit neuen Therapien vertraut machen. Dieses Potential müssen - und wollen - wir nutzen.

Neben finanziellen Aspekten ist auch der bürokratische Aufwand ein Argument der Antragsteller, sich gegen Europa als Studienstandort zu entscheiden.

Dass es abschreckend wirkt, wenn beispielsweise Anträge für multinationale klinische Studien in jedem Land separat bei den nationalen Behörden und Ethikkommissionen eingereicht werden müssen, ist nachvollziehbar. Ziel ist es, die EU als Drehscheibe für die klinische Forschung zu stärken und weiter auszubauen. Dazu gehört auch, dass der Weg der Antragsteller durch das Genehmigungsverfahren vereinfacht und beschleunigt werden muss – das ist ein konkreter Schritt, um die Entwicklung hochwertiger Arzneimittel weiter zu fördern. Gleichzeitig bieten wir auch zahlreiche Unterstützungsformate an, die wir weiter ausbauen, um Antragstellern und Sponsoren im Verfahren Hilfestellung zu leisten, sei es in Form von Checklisten oder Schulungsangeboten bis hin zu einer Vielzahl an Beratungsformaten.

Wie lässt sich das umsetzen und gleichzeitig das hohe Niveau der klinischen Studien beibehalten?

Diese Punkte werden in der neuen EU-Verordnung über klinische Studien adressiert, die im Februar 2022 in Kraft getreten ist. Mit ihr wird das Verfahren in der EU durch einheitliche gesetzliche Anforderungen harmonisiert. Kernpunkt ist das neue Clinical Trials Information System „CTIS“. Dieses System wird in den nächsten drei Jahren schrittweise zur zentralen Anlaufstelle für Unternehmen weiter ausgebaut werden, die klinische Studien in der EU durchführen möchten. Sie können mit nur einem einzigen Antrag eine Genehmigung für die EU-Länder beziehungsweise den europäischen Wirtschaftsraum beantragen. Auch die Genehmigungs- und Aufsichtsbehörden können über das System unkompliziert mit dem Sponsor in Kontakt treten, schnell mit anderen Behörden zusammenarbeiten und Informationen austauschen. Das hohe Niveau bei der Durchführung der Studien bleibt erhalten, zum Beispiel, wenn es um den Schutz der Teilnehmenden und die Verlässlichkeit der Daten geht.

 

Eine neue EU-Verordnung und das Clinical Trials Information System: Reichen diese Maßnahmen aus, um das europäische Umfeld für klinische Prüfungen nachhaltig zu stärken?

Die jetzt begonnenen Veränderungen sind die ersten Bausteine. Wir arbeiten als BfArM im Netzwerk der europäischen Gesundheitsbehörden daran, das Umfeld der klinischen Forschung grundlegend umzugestalten. Auf lange Sicht geht es darum, neue Wege zu finden, wie klinische Prüfungen initiiert, konzipiert und durchgeführt werden. Dazu wurde fast gleichzeitig mit dem Inkrafttreten der neuen EU-Verordnung die Initiative „Accelerating Clinical Trials in the EU“, abgekürzt ACT EU, ins Leben gerufen. Darin arbeiten die Europäischen Zulassungsbehörden, die Europäische Arzneimittel-Agentur sowie die EU Kommission gemeinsam an entsprechenden Neuerungen.

Was soll sich durch die Initiative konkret ändern?

Durch die Initiative wollen wir Silos aufbrechen und gemeinsam medizinische Innovationen fördern. Während es in der EU-Verordnung darum geht, die Einreichung, Bewertung und Überwachung von Studien in der EU zu harmonisieren, kümmert sich ACT EU darum, dass dieser koordinierte Ansatz auch auf die Innovationen im Bereich der klinischen Studien angewandt wird.
Wir haben dazu unter anderem ein Strategiepapier veröffentlicht, in dem zehn vorrangige Maßnahmen für 2022/2023 beschrieben werden. Dazu gehört beispielsweise eine koordinierte wissenschaftliche Beratung bei der Zulassung von klinischen Prüfungen oder die Einrichtung einer Multi-Stakeholder-Plattform.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist das Thema Transparenz. Immer wieder wird kritisiert, dass Studienergebnisse nicht vollumfänglich publiziert und negative Ergebnisse der Öffentlichkeit damit vorenthalten werden.

Es ist völlig klar, dass klinische Studien wesentliche Treiber für medizinische Innovationen und Fortschritte in der Patientenversorgung und Krankheitsprävention sind. Deshalb sind Kontrolle und Transparenz für den Schutz der öffentlichen Gesundheit und die Förderung der Innovation im Bereich der medizinischen Forschung unabdingbar. Ein umfassender Zugang zu den zusammenfassenden Ergebnissen ist ein wesentlicher Aspekt, damit Wissenschaft, Ärzteschaft und Politik fundierte Entscheidungen über die Gesundheitsversorgung und medizinische Forschung treffen können.

Eine unzureichende Berichterstattung im Allgemeinen und eine selektive Berichterstattung über klinische Studien mit positivem Ergebnis kann potenziell vermeidbare Redundanzen bei der Durchführung zur Folge haben und die ökonomische und wissenschaftliche Effizienz klinischer Forschung beeinträchtigen. Außerdem können unveröffentlichte klinische Prüfungen mit ungünstigem Ergebnis negative Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit haben – und das müssen wir vermeiden.

Wie sorgt das BfArM dafür, dass hier mehr Transparenz geschaffen wird?

Wir fordern regelmäßig mehr Transparenz und stärkeres Engagement bei der Einreichung von Ergebnissen. Die Sponsoren klinischer Prüfungen sind von der Europäischen Arzneimittel-Agentur EMA zusammen mit der Europäischen Kommission und den nationalen Behörden wie dem BfArM aufgefordert, ihre Ergebnisse in der Europäischen Datenbank einzutragen. Das BfArM wendet sich beispielsweise mit umfangreichen Nachfass-Aktionen direkt an Sponsoren, die ihre Abschlussberichte nicht innerhalb eines Jahres nach Beendigung der Studie in EudraCT hochgeladen haben.
Flankierend adressieren wir die Sponsoren auch im Zusammenspiel mit den Ethikkommissionen, den Verbänden der pharmazeutischen Industrie und Vertretern der medizinischen Fakultäten, die Berichte rechtzeitig in EudraCT hochzuladen. Wir nutzen unsere Netzwerke z.B. mit akademischen Sponsoren klinischer Studien, um für dieses wichtige Thema zu sensibilisieren und die Verpflichtungen, wie eben das Veröffentlichen von Abschlussberichten, aufzuzeigen.
Und mit dem neuen Clinical Trials Information System „CTIS“ setzen wir diesen Weg mit einem neuen, umfassenden IT-System konsequent fort, um künftig noch mehr Ergebnisberichte noch schneller zugänglich zu machen.

Prof. Karl Broich

Prof. Dr. Karl Broich

Prof. Broich ist Mediziner (Neurologie, Psychiatrie, kognitive Verhaltenstherapie) und seit 2014 Präsident des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) in Bonn.
Seine aktuellen Aktivitäten im europäischen Netzwerk der Zulassungsbehörden sind Mitglied des Verwaltungsrates der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA MB), Vorsitzender der Network Portfolio Advisory Group (NPAG). Er ist Mitglied der Heads of Medicines Agencies (HMA) Management Group und hat derzeit deren Vorsitz übernommen. Des Weiteren ist er Co-Chair des Darwin EU Advisory Board der EMA.
Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte liegen auf klinischer Psychopharmakologie, Bildgebung bei neurodegenerativen Erkrankungen und anderen möglichen Biomarkern und Demenz sowie u. a. der Methodik klinischer Studien. Prof. Karl Broich ist Autor und Koautor von über 230 Aufsätzen (wissenschaftliche Originalarbeiten, Rezensionen, Buchbeiträge).

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