BfArM - Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte

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Vergleich der Wirksamkeit von Krebsarzneimitteln im Rahmen der Zulassung

Im vorangegangenen Artikel „Die Grundprinzipien der Nutzen-Risiko-Bewertung für innovative Arzneimittel“ haben wir dargelegt, dass ein positives Nutzen-Risiko-Verhältnis – bei dem der Nutzen eines Arzneimittels seine Risiken überwiegt – für die Marktzulassung unerlässlich ist und dass ohne ausreichende Wirksamkeitsnachweise selbst hervorragende Sicherheits- und Qualitätsprofile eine Zulassung nicht rechtfertigen können. Kein neues Arzneimittel, nicht einmal ein innovatives First-in-Class-Produkt, wird jedoch für sich allein bewertet. Ein wichtiger Teil der regulatorischen Bewertung ist das Verständnis, wie ein neues Arzneimittel im Verhältnis zu bereits zugelassenen und idealerweise für Patientinnen und Patienten in der EU verfügbaren Behandlungen abschneidet.

1. Der konzeptionelle Rahmen: Das Wirksamkeitsspektrum

Um Vergleiche zu veranschaulichen, verwenden wir ein Diagramm mit einer vertikalen Achse, die die relative Wirksamkeit des Arzneimittels darstellt. Die relative Wirksamkeit eines Arzneimittels wird nicht exakt als einzelner, exakt lokalisierter Punkt dargestellt, sondern wir bilden für jedes Produkt einen Bereich ab, der die Unsicherheit bei der Einordnung widerspiegelt. Diese Unschärfe ist nicht nur durch die Wahl der klinischen Endpunkte und Messungenauigkeiten in den zur Zulassung eingereichten Phase III Studien bedingt. Werden für einen indirekten Vergleich der Wirksamkeit Daten aus klinischen Studien bereits zuvor zugelassener Arzneimittel oder sogar real world data verwendet, trägt das ebenfalls beträchtlich zu dieser Unsicherheit bei. 

Dieses Wirksamkeitsspektrum kann in drei Schlüsselbereiche unterteilt werden:

Das Diagramm zeigt eine Übersicht der relativen Wirksamkeit von Arzneimitteln, unterteilt in verschiedene Kategorien, von bereits zugelassenen Arzneimitteln über neue Arzneimittel mit eindeutigen Szenarien bis hin zu komplexeren Bewertungssituationen. (Bild hat eine Langbeschreibung)
Abbildung Wirksamkeit Quelle: BfArM

1.1. Der Standardbereich (Grüner Bereich)

In der Standardtherapie (Standard of Care) sind die derzeit besten Behandlungsoptionen dargestellt. Dieser Bereich kann mehrere Produkte umfassen, die eine eindeutig belegte und klinisch relevanten Wirksamkeit zeigen. Obwohl sie geringfügige Unterschiede aufweisen können und eines als das „beste“ gelten mag (Abbildung 1, Nr. 1), sind sie alle als wirksame Optionen anerkannt, die dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft entsprechen.

Regionale Präferenzen in den EU-Mitgliedstaaten können beeinflussen, welche spezifischen Behandlungen bevorzugt werden, doch alle bewegen sich im Rahmen der evidenzbasierten Medizin. Selbstverständlich gibt es immer Raum für noch bessere Produkte, die den Behandlungsstandard weiter verbessern könnten.

1.2. Der Bereich ohne Wirksamkeit (Roter Bereich)

Am unteren Ende zeigt der „Bereich ohne Wirksamkeit“ die Ergebnisse, die beim normalen, unbehandelten Krankheitsverlauf beobachtet werden. Dieser Bereich schließt auch den Placeboeffekt ein, der selbst ohne pharmakologische Wirkung zu messbaren Ergebnissen führen kann, die sich von denen ohne jede Behandlung unterscheiden. Ein neues Arzneimittel, das keine überlegene Wirkung gegenüber Placebo nachweisen kann, kann nicht zugelassen werden.

1.3. Der Bereich der überholten Behandlungen (Grauer Bereich)

Zwischen der Standardtherapie und dem Bereich ohne Wirksamkeit befindet sich ein Bereich, der ältere, oft vor Jahrzehnten zugelassene Produkte umfasst. Diese zeigen zwar eine pharmakologische Aktivität und Wirksamkeit, sind jedoch der Standardtherapie klar unterlegen.

Bei Krebserkrankungen kann die Anwendung unterlegener Behandlungen, wenn überlegene Alternativen verfügbar sind, einen „Chancenverlust“ bedeuten, da Verzögerungen bei der Anwendung der optimalen Therapie eine zumindest vorübergehend vermeidbare Krankheitsprogression und irreversible Schäden ermöglichen können.

Dennoch bleiben diese Arzneimittel aus verschiedenen Gründen verfügbar: Aus medizinischer Sicht ist die Fortsetzung einer erfolgreichen Behandlung mit dem älteren Arzneimittel die bevorzugte Option, wenn die Umstellung auf neuere Optionen unnötige Risiken mit sich bringen könnte. Die Akzeptanz für das Risiko schwerwiegender Nebenwirkungen ist individuell unterschiedlich. Manche Patientinnen oder Patienten bevorzugen ein „milderes“ Arzneimittel mit weniger Nebenwirkungen, trotz dessen geringerer Wirksamkeit. Zudem ist die überlegene Therapie möglicherweise nicht in allen Teilen Europas auf dem Markt oder ihre Verfügbarkeit durch fehlende Kostenerstattung eingeschränkt. Aus regulatorischer Sicht ist es schwierig, einen Widerruf der Zulassung zu rechtfertigen, es sei denn, neue Daten zur Sicherheit oder Wirksamkeit des Produkts verändern das Nutzen-Risiko-Verhältnis. Daher ist es gerechtfertigt, diese alten Produkte auf dem Markt zu belassen und die Wahl der besten Therapieoption für jede Patientin und jeden Patienten den onkologischen Experten zu überlassen.

2. Einordnung innovativer Arzneimittel im Wirksamkeitsspektrum

Neue Arzneimittel werden stets im Kontext bestehender therapeutischer Optionen bewertet, wobei ihre Wirksamkeit im Vergleich zu bereits in der EU zugelassenen und für Patientinnen und Patienten verfügbaren Behandlungen betrachtet wird. Mithilfe dieses Wirksamkeitsspektrums können wir neue Produkte positionieren, um ihren Platz im therapeutischen Kontext zu bewerten und sowohl ihre relative Wirksamkeit als auch die inhärente Unsicherheit zu visualisieren. Dabei gibt es leicht zu bewertende „eindeutige Fälle“ und schwieriger zu bewertende „komplexe Fälle“.

2.1. Eindeutige Szenarien

Viele Zulassungsanträge stellen sogenannte „eindeutige Fälle“ dar – Szenarien, in denen die Position des neuen Produkts im Verhältnis zu bestehenden Behandlungen klar ist:

2.1.1. Überlegene Wirksamkeit

Im günstigsten Szenario übertrifft ein neues Produkt klar selbst die beste gegenwärtig verfügbare Behandlung und bringt einen echten therapeutischen Fortschritt (Abbildung 1, Nr. 2). Diese Fälle sind wahre Innovationen und bedeuten eine Verbesserung der Patientinnen- und Patientenversorgung.

2.1.2. Gleichwertig zur Standardtherapie

Wenn neue Produkte eine Wirksamkeit nachweisen, die der aktuellen Standardtherapie entspricht (Abbildung 1, Nr. 3), bieten sie wertvolle Behandlungsalternativen. Diese Äquivalenz bietet Vorteile in Bezug auf die Therapiefreiheit, Wettbewerb und kann in spezifischen Subpopulationen oder klinischen Szenarien zusätzliche Optionen bieten.

2.1.3. Potenziell überlegene Produkte

Ein interessanter Mittelweg ergibt sich, wenn neue Produkte mindestens genauso gut wie die Standardtherapie sind und möglicherweise sogar überlegen sein könnten (Abbildung 1, Nr. 4). Zwar besteht Unsicherheit darüber, ob solche Produkte die neue beste Behandlung werden, doch in der Regel klären sich diese Fragen mit der Zeit durch zusätzliche Daten. Aus regulatorischer Perspektive sprechen diese Situationen in der Regel für eine Zulassung, auch wenn Einrichtungen zur Bewertung von Gesundheitstechnologien (HTA-Gremien) für Erstattungsentscheidungen möglicherweise eindeutigere Nachweise der Überlegenheit fordern.

2.1.4. Eindeutig unwirksame Produkte

Am anderen Ende des Spektrums liegen Produkte, die keine über Placebo hinausgehende Wirksamkeit oder keine ausreichenden Belege für eine therapeutische Wirkung zeigen - diese können nicht zugelassen werden (Abbildung 1, Nr. 5). In Fällen, in denen die Datenlage für eine verlässliche Wirksamkeitsbestimmung nicht ausreicht, müssen Antragsteller zusätzliche Nachweise erbringen, bevor eine Zulassung möglich wird. Extreme Unsicherheit – bei der die Wirksamkeit von „neues bestes Arzneimittel“ bis „keine Wirksamkeit“ reichen könnte – schließt eine Zulassung ohne weitere Nachweise ebenfalls aus (Abbildung 1, Nr. 6).

2.2. Komplexe Bewertungssituationen

2.2.1. Produkte mit begrenzter Wirksamkeit

Komplexere Situationen oder schwierige Fälle treten auf, wenn neue Arzneimittel zwar eine pharmakologische Aktivität und eine gewisse Wirksamkeit zeigen, aber der Standardtherapie unterlegen zu sein scheinen (Abbildung 1, Nr. 7). Diese Produkte können isoliert betrachtet ein positives Nutzen-Risiko-Profil aufweisen, werfen aber wichtige Fragen hinsichtlich des Patientinnen- und Patientenwohls auf.

Die entscheidende Überlegung ist, ob die Zulassung solcher Produkte Schaden anrichten könnte, indem sie Patientinnen und Patienten von wirksameren Therapien abhält (Szenario des Chancenverlusts). Eine streng regulatorische Argumentation, die das neue Arzneimittel mit dem besten für alle EU-Patientinnen und Patienten zugelassenen Krebsmedikament vergleicht, kann gelegentlich zu anderen Schlussfolgerungen führen als eine medizinische Argumentation, die die faktische Nichtverfügbarkeit der besten Behandlung für einige Patientinnen und Patienten berücksichtigt. In diesen Fällen besteht die pragmatische Lösung in der Regel in der detaillierten und quantitativen Beschreibung der erwünschten und der unerwünschten Wirkungen des Arzneimittels in den Europäischen Öffentlichen Bewertungsberichten (European Public Assessment Reports). Diese liefern Patientinnen und Patienten und ihren Ärzten die notwendigen Daten, um eine informierte Entscheidung über die beste Option für die spezifische Situation einer individuellen Patientin oder eines individuellen Patienten zu treffen.

2.2.2. Überlegungen zur Nichtunterlegenheit

Nichtunterlegenheitsstudien (non-inferiority studies), in denen von vornherein nicht die Überlegenheit, sondern die Äquivalenz mit der Standartherapie gezeigt werden soll, sind ein häufiger und valider Bestandteil der Arzneimittelentwicklung. Aus methodischen Gründen lassen diese aber immer die Möglichkeit einer gewissen Unterlegenheit gegenüber dem Vergleichspräparat bzw. der Standardtherapie zu (Abbildung 1, Nr. 8).  Dies erfordert eine sorgfältige Abwägung der Nichtunterlegenheitsmarge (non-inferiority margin) – der maximal tolerierten Wirksamkeitsdifferenz im Vergleich zur Standardtherapie, die klinisch noch als gleichwertig angesehen wird.

Die Wahl angemessener Margen erfordert eine Balance zwischen klinischer Relevanz und statistischer Machbarkeit. Übermäßig große Margen können klinisch inakzeptabel sein, da sie die Zulassung eindeutig unterlegener Produkte ermöglichen könnten. Umgekehrt erfordern sehr kleine Margen möglicherweise unrealistisch große Patientinnen- und Patientengruppen, um statistische Aussagekraft zu erreichen. Die Wahl der Marge muss klinisch begründet sein und aussagekräftige Unterschiede bei den Ergebnissen der klinischen Studien ermöglichen.

2.2.3. Gezielte Therapien in neuen Patientinnen und Patienten - Subgruppen

Besonders herausfordernde Szenarien ergeben sich, wenn neue Arzneimittel für spezielle Patientinnen- und Patientengruppen bestimmt sind, bei denen die Wirksamkeit der Standardtherapie unbekannt ist (Abbildung 1, Nr. 9). Ein Beispiel wäre eine gezielte Therapie für einen spezifischen Krebs-Subtyp mit einer kürzlich entdeckten Treibermutation. Einarmige Studien könnten eine vielversprechende Aktivität zeigen, jedoch ohne Vergleich mit der Standardchemotherapie.

In solchen Fällen erschweren mehrere Faktoren die Bewertung: Die Studienergebnisse belegen auf eine klare Wirksamkeit des neuen Arzneimittels, das möglicherweise zur neuen überlegenen Standardtherapie wird. Der relative Wert der neuen Behandlung im Vergleich zur Standardbehandlung bleibt jedoch unbekannt, da keine Kontrollgruppe vorliegt und für die Gruppe mit dieser spezifischen Treibermutation keine historischen Kontrolldaten existieren.

In solchen Situationen mit hohem ungedecktem medizinischem Bedarf (unmet medical need) und vielversprechenden, aber noch unvollständigen Daten kann eine bedingte Marktzulassung (CMA) angemessen sein. Dies ermöglicht eine frühere Verfügbarkeit des Arzneimittels für die Patientinnen und Patienten, während der Zulassungsinhaber umfassendere Daten sammelt, um das positive Nutzen-Risiko-Verhältnis zu bestätigen.

3. Die regulatorische Bewertung als Beitrag für nachgelagerte Entscheidungen

Die regulatorische Bewertung der EMA liefert eine unvoreingenommene, standardisierte Bewertung des Arzneimittels, die primär auf klinischen Studien basiert (mit zunehmender Integration von Real-World-Daten). Sie beschreibt detailliert die Wirksamkeit in Subgruppen, ordnet neue Arzneimittel durch direkte oder indirekte Vergleiche mit bestehenden Optionen ein und adressiert Unsicherheiten – manchmal durch bedingte Zulassungen. Ungenauigkeiten und Unsicherheiten sowie deren regulatorische Konsequenzen werden explizit beschrieben.

Wenn HTA-Gremien und Kostenträger über Erstattung und Preisgestaltung entscheiden, unterscheidet sich dies von der Bewertung eines Arzneimittels im Rahmen der Zulassung. Zwar können diese Entscheidungsträger die zuvor erfolgte Bewertung durch die Zulassungsbehörden in ihre Bewertung einbeziehen und darauf aufbauen. Sie müssen sich jedoch häufig mit den gleichen Ungenauigkeiten auseinandersetzen wie die Zulassungsbehörden. Für eine fundierte ökonomische Bewertung sind aber möglicherweise zusätzliche Daten nötig. Für ein innovatives Arzneimittel, das mindestens so gut wie die Standardtherapie und möglicherweise oder wahrscheinlich sogar signifikant besser ist, ist die regulatorische Schlussfolgerung einer Zulassungsfähigkeit unkompliziert. Für die Entscheidung über den angemessenen Preis ist der Unterschied zwischen „mindestens so gut wie“ und „signifikant besser“ jedoch entscheidend.

Wenn Patientinnen und Patienten mit ihren Ärztinnen und Ärzten eine Behandlungsentscheidung treffen, ist dafür nicht nur die Marktzulassung für eine bestimmte Indikation von Bedeutung. Die Bewertung im Rahmen der Zulassung untersucht auch Subgruppen und beschreibt quantitativ, welche Wirksamkeit in welcher Subgruppe beobachtet wurde. Insbesondere die Standard-Subgruppen Geschlecht und Alter liefern zusätzliche Informationen, die bei der Auswahl der besten Behandlungsoption für individuelle Patientinnen und Patienten helfen können. In jüngerer Zeit hat auch die Unterscheidung von Subgruppen, die durch die Expression von Biomarkern definiert werden, an Bedeutung gewonnen und kann individuelle Entscheidungen für die eine oder andere Behandlungsoption unterstützen.

Für die erfolgreiche und zügige Entwicklung innovativer Krebsmedikamente von der Forschung bis zum routinemäßigen klinischen Einsatz ist ein frühzeitiger und offener Austausch zwischen allen Entscheidungsträgern notwendig:

  • Entwickler: um zu verstehen, welche Evidenz realistisch erzeugt werden kann.
  • Regulierungsbehörden: um zu klären, welche Nachweise für eine Nutzen-Risiko-Bewertung erforderlich sind.
  • HTA-Gremien: um den Datenbedarf für ökonomische Bewertungen zu definieren.
  • Patientinnen und Patienten: um sicherzustellen, dass ihre Bedürfnisse, Erwartungen und Präferenzen im Mittelpunkt des Prozesses stehen.

Letztendlich ist die Gesundheit der Patientinnen und Patienten das gemeinsame Ziel der Arbeit aller Beteiligten.